Hermann Hesse – Eine Bibliothek der Weltliteratur

Ogawa Jihei / Maekawa Senpan – Cartoon-Weltkarte (1924). Quelle: Wikimedia Commons, Public Domain.

Ein Beitrag von Hannes Kreutner

Hermann Karl Hesse (* 2. Juli 1877 in Calw; † 9. August 1962 in Montagnola, Schweiz) war ein deutsch-schweizerischer Schriftsteller, Dichter und Maler, der nicht nur als einer der wichtigsten deutschsprachigen Epiker seiner Zeit gilt, sondern ebenfalls zu den meistgelesenen europäischen Autoren in den USA, Japan und nahezu überall auf der Welt gehört. Hesse lässt sich nur sehr schwer oder gar nicht in eine literarhistorische Epoche einordnen, da er ein Schriftsteller außerhalb der Strömungen ist. Die Gründe für seine weltweite Popularität sind in der leichten Identifizierung mit Hesses Nöten, Sehnsüchten und Träumen, der Bestärkung der Individualität eines jeden Menschen, aber auch in seinen fernöstlichen und psychologischen Ansätzen zu finden. Während des Vietnam-Konfliktes und den Hippie-Bewegungen wird Hesse in Amerika schlagartig berühmt und entwickelt sich zu einer Kultfigur für jugendliche Hippies. Dabei sind vor allem seine Romane Siddhartha und Der Steppenwolf beliebt, in welchen Hesses Standpunkt gegen den Krieg und gegen die kollektive gleichmachende Masse als vorbildhaft angesehen wird. Trotz einiger Missinterpretationen seiner Romane zu dieser Zeit (beispielsweise werden bewusstseinserweiternde Drogen zu seiner Lektüre empfohlen) gelten Hesses Erzählungen noch heute in allen Altersschichten als Wegweiser zur Individualität und Begleiter auf dem Weg der Emanzipation.

Hermann Hesse hat im Laufe seines Lebens wohl Tausende von Büchern gelesen, davon standen etliche in seiner großen, wohlgeordneten Bibliothek. Dazu erlernte er den Beruf des Buchhändlers und arbeitete im ersten Weltkrieg im Dienste der Bücherversorgung für die Kriegsgefangenen. Es scheint auf den ersten Blick nichts Besonderes zu sein, wenn ein prominenter Schriftsteller und Dichter viel liest und sich in der Literatur auskennt. Jedoch ist Hesses Leseleistung, sein Überblick über die Weltliteratur und auch die Gegenwartsliteratur seiner Zeit sowie seine Art, mit Literatur umzugehen, etwas Besonderes. Schon in jungen Jahren lernt er durch den Zugang zu der großen Bibliothek seines Großvaters den Wert des „richtigen“ Lesens kennen. 1929 veröffentlicht er seine wohl einzige und damit bekannteste Literaturkritik unter dem Titel Eine Bibliothek der Weltliteratur.

Schon im Titel wird deutlich, dass Hesse nicht darauf abzielt, die perfekte Leseliste zu erstellen. Es handelt sich um EINE mögliche Bibliothek der Weltliteratur unter vielen vom Individuum abhängigen Bibliotheken und nicht um DIE EINE richtige Bibliothek der Weltliteratur.

In seiner kleinen Schrift macht er einen Vorschlag für die Zusammenstellung einer Bibliothek der Weltliteratur und stellt dabei eine subjektive Auswahl der wichtigsten Dichtung aller Zeiten und Kulturen zusammen, welche von den indischen Upanishaden bis hin zu C.F. Meyer und Gottfried Keller reicht.

Für Hesse sind nicht die Aneignung von Bildung und die Absolvierung von Pflichtlektüre Sinn und Zweck des Lesens, sondern das Auffinden von Gedanken, die für die jeweiligen Leser wichtig sind, woraus der Leser sich wiederum weiterbilden kann. Außerdem betrachtet er dabei den Weg des Lesens von Weltliteratur als endlos, da niemand jemals die gesamte Literatur der Menschheit durchstudieren geschweige denn lesen könnte. Es sollte also nicht darauf ankommen, möglichst viel zu lesen, sondern darauf, eine persönliche und freie Auswahl an Meisterwerken zu finden, die dem eigenen Charakter entsprechen.

Für Hesse stellt auch das Thema Sprache eine große Hürde im Kontext der Weltliteratur dar. Er spricht davon, dass es zahlreiche Texte gibt, die nicht ins Deutsche übersetzt wurden oder es Dichtungen gibt, die einfach nicht übersetzbar sind. Seiner Meinung nach verliert beispielsweise „echte“ Lyrik ihren Charakter durch Übersetzungen, weil sie nicht nur an die Muttersprache des jeweiligen Dichters, sondern viel eher auch an seine persönliche Dichtersprache gebunden ist und damit unübersetzbar wird.

Echte Leser zeichnen sich für Hesse nicht durch die Menge des Gelesenen aus, sondern durch die gut durchdachte Auswahl der Lektüre und die intensive Auseinandersetzung mit dem Werk. Für ihn entsteht dort Bildung, wo mit Liebe gelesen wird und sich mit Ehrfurcht Wissen angeeignet wird. Ein Mensch kann viel gelesen haben und kann über alles mitreden, jedoch ohne jeden Erfolg. Denn Bildung setzt Hesse zufolge etwas zu Bildendes voraus, in der Literatur nämlich einen Charakter und eine Persönlichkeit.

Seine persönliche Auswahl an Weltliteratur rechtfertigt Hesse mit einem Grundsatz aller Geistesgeschichte. Für ihn sind es die allerältesten Werke, die am wenigsten veralten. Was heute neu und interessant ist, ist es mit großer Wahrscheinlichkeit morgen oder übermorgen nicht mehr. Die ältesten Werke haben sich jedoch so lange gehalten, ohne in Vergessenheit zu geraten, dass sie auch noch lange Zeit weiter überleben werden.

Gegen Ende seiner kleinen Schrift kritisiert er die eigene spontan erstellte Leseliste der Weltliteratur und macht damit deutlich, wie abhängig diese Zusammenstellung von Launen, Gefühlen und weiteren Faktoren ist. Er resümiert, dass ihm selbst die eigene Bibliothek trotz einiger Mängel zu ideal und unpersönlich erscheint.

Seine Schrift beendet er mit einem gut gemeinten Ratschlag, der das grundsätzliche Leseverhalten der Menschen betrifft. Seiner Meinung nach ist es wichtig, dass jeder damit beginnt, Dinge zu lesen, die er versteht und liebt. Und auch wenn die Modelektüre oft einfacher und auf den ersten Blick interessanter wirkt, sollte der Leser keine Angst haben sich an die Dramen eines Jean Racine oder den Humor eines Jean Paul heranzuwagen. Denn nach Hesse müssen erst wir uns an den Meisterwerken bewährt haben, bevor sie sich an uns bewähren können.

Veröffentlicht von digitaleliteraturfr

Extraordinary Professor of German Literature, University of Freiburg, Germany / Project Head, "Goethe digital", Klassik Stiftung Weimar and Marbach Weimar Wolfenbüttel Research Association, Germany

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