Gayatri Chakravorty Spivak – Eine neue Komparatistik

Paul John Brown, Pan American World Air System World’s Most Experienced Airline (1956). Quelle: Wikimedia Commons, Public Domain.

Ein Beitrag von Caroline Leuschner

Gayatri Chakravorty Spivak (*24.02.1942 in Kolkata, Indien) ist Professorin für Literatur und Komparatistik an der Columbia University, New York, und eine der einflussreichsten Stimmen im komparatistischen Diskurs. Größere Bekanntheit erlangte sie durch ihre Übersetzung von Jaques Derridas De la Grammatologie ins Englische. Als Mitbegründerin der postcolonial studies und durch ihren immensen Einfluss innerhalb der komparatistischen Disziplin liegt es nahe, dass Spivak auch den Begriff der Weltliteratur beeinflusst und kritisch hinterfragt. Obwohl Spivak Weltliteratur nach Goethes Verständnis – eine weltweite literarische Kommunikation – unterstützt, übt sie scharfe Kritik am weiterhin existierenden Eurozentrismus innerhalb der Komparatistik aus und wehrt sich in ihren Texten gegen eine Homogenisierung der Kulturen.

Spivak nutzt in ihren Texten die Begriffe subaltern und planetarity, die hilfreich sind, um ihren komparatistischen Ansatz zu verstehen. Unter subaltern versteht Spivak jemanden, der oder die sozial und ökonomisch vollständig ausgegrenzt ist und jeglicher sozialer Mobilität enteignet ist. Die Kernelemente der Subalternität sind schwerste Armut sowie politische und soziale Unsichtbarkeit, weswegen Spivak sich vehement dafür ausspricht, den Begriff nicht synonym mit ‚unterdrückt‘ zu benutzen. Die Unsichtbarkeit, die Unmöglichkeit, Gehör zu finden und die soziale Immobilität sind für Spivak essentielle Merkmale des subaltern. Der Begriff planetarity stellt für Spivak eine ethische Alternative zur Globalisierung dar. Sie beklagt in ihrem Text ‚Death of a Discipline‘ (2003) die strenge und menschengemachte Einteilung der Welt in Staaten, Gebiete, Märkte etc., betont aber, dass der Planet hingegen etwas Konkretes ist und nicht geopolitisch eingeteilt werden kann. Der Mensch soll sich als planetares Subjekt sehen und nicht als global Handelnder oder gar als globale Einheit. Planetarity hat demnach die Kraft, Selbstautorität zu verschieben und den Planeten so strategisch von seinen Grenzen (also auch seinen menschengemachten Konzepten) zu befreien.

Spivak identifiziert einen Konflikt zwischen der traditionellen Disziplin der Komparatistik und der Kulturwissenschaft und strebt eine Neue Komparatistik an, für die die zuvor definierten Begriffe unerlässlich sind. Zum einen konzentriert sich Spivak auf diejenigen Gruppen, die bisher kein oder wenig Gehör gefunden haben, ‚alte Minderheiten‘, namentlich afrikanische, asiatische und hispanische Minderheiten. Die besondere Bedeutung des Islam in unserer heutigen Welt soll ebenfalls geltend gemacht werden. Von großer Bedeutung ist hier, dass für diese Gruppen der Zugang zu einer sozialen Produktivität (z.B. Schulbildung) geschaffen wird, damit eine eigene Stimme innerhalb dieser Minderheiten entstehen kann. Spivak kritisiert den Irrglauben, dass Subalterne oder auch Minderheiten, die kein Gehör finden, eine ,Stimme von außen‘ benötigen; die Veränderung muss grundlegender sein, sodass ‚soziale Abweichungen‘ bekämpft statt überdeckt werden. Das Sprachrohr für Minderheiten, Subalterne oder Unterdrückte zu sein, bringt diese nur tiefer in die Unterdrückung bzw. Subalternität.

Andererseits verschafft eine planetarische, neue Komparatistik peripheren Literaturen sowie deren alternativen Weltformationen ein Gehör. Während Spivak der ‚alten Komparatistik‘ eine Verallgemeinerung verschiedener Strömungen vorwirft, ermöglicht die planetarische Komparatistik, die Literatur- und Sprachwissenschaften sowie Kultur- und Arealstudien beinhaltet, die Betrachtung heterogener Literaturen zu gleichen Bedingungen. Die Disziplin soll sich einer kross-kulturellen Untersuchung verschiedenster Literaturen und den einhergehenden Kulturen und Arealen widmen.

Spivaks Konzept einer neuen Komparatistik kann demnach als ganzheitliches Modell zur Betrachtung, Teilhabe und Untersuchung an den verschiedenen Literaturen der Welt gesehen werden. Durch ihre Definition der Planetarität (und dem damit einhergehenden Verschwinden menschengemachter Grenzen) wird ein Ausgangspunkt oder Zentrismus obsolet. Texte der Welt, die zuvor in der Peripherie untergingen, können so die Stimme für verschiedene Minderheiten werden und sich autonom Gehör verschaffen. Das entstehende akademische Interesse kann sich zudem möglicherweise zu einem Interesse an Menschenrechten ausweiten.

Veröffentlicht von digitaleliteraturfr

Extraordinary Professor of German Literature, University of Freiburg, Germany / Project Head, "Goethe digital", Klassik Stiftung Weimar and Marbach Weimar Wolfenbüttel Research Association, Germany

Hinterlasse einen Kommentar

Erstelle eine Website wie diese mit WordPress.com
Jetzt starten