‚Weltliteratur‘ vor Goethe

Guillaume Thomas François Raynal, Weltkarte aus: Histoire philosophique et politique des établissements et du commerce des Européens dans les deux Indes Edition: Nouvelle édition, Amsterdam 1773/74. Quelle: Wikimedia Commons, Public Domain.

Ein Beitrag von Stefan Höppner

Schon vor Goethe wurde der Begriff der ‚Weltliteratur‘ gelegentlich verwendet. Nachweisbar ist das Wort zuerst bei dem Historiker August Ludwig Schlözer und dem Dichter Christoph Martin Wieland. Anders als Goethe fand ihre Verwendung aber keine nachhaltige Resonanz – Schlözer hatte über seinen Tod hinaus wenig Leser und Wieland publizierte seine Verwendung des Wortes nie. Zudem wurden sie im Ausland weit weniger gelesen. Drittens wird die Erfindung des Wortes ‚Weltliteratur‘ gelegentlich dem Dichter, Übersetzer und Philologen August Wilhelm Schlegel (1767 – 1845) zugeschrieben, der es in seinen Vorlesungen über schöne Literatur und Kunst (1801/04) zuerst gebraucht habe.

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August Ludwig Schlözer (1735 – 1809) war ein Theologe, Jurist, Historiker und Philologe, der lange Zeit an der Universität Göttingen lehrte. Sein besonderes Interesse galt anderen Kulturen. Ungewöhnlich für die Zeit war, dass er dieses Interesse in längeren Auslandsaufenthalten auslebte. So arbeitete er drei Jahre lang als Hauslehrer in Schweden und sogar neun Jahre im russischen Sankt Petersburg, zuletzt in Stellungen an der Russischen Akademie der Wissenschaften und als Hochschullehrer für Russische Geschichte. Als Historiker publizierte er vor allem zu letzterem Thema, legte aber 1772/73 auch eine eigene Vorstellung seiner Universal-Historie vor. Bis zu seinem Tod galt er als einer der führenden Intellektuellen in Deutschland, geriet danach aber bald in Vergessenheit. Von ‚Weltliteratur‘ sprach Schlözer in dem kleinen Band Isländische Litteratur und Geschichte (1773):

Es gibt eine eigene Isländische Litteratur aus dem Mittelalter, die für die gesamte Weltlitteratur ebenso wichtig, und großenteils außer dem Norden noch ebenso unbekannt, als die Angelsächsische, Irrländische, Rußische, Byzantinische, Hebräische, Arabische, und Sinesische, aus ebendiesen düstern Zeiten, ist.

Schlözer behandelt die isländische Literatur nicht als isoliertes Phänomen, sondern stellt sie in den Kontext anderer Literaturen. Er sieht in ihr nicht eine Art naiver und ursprünglicher ‚Volkspoesie‘, sondern eine voll entwickelte Literatur. Nur solche ‚cultivirten‘ Literaturen gehören für ihn zur Weltliteratur. Schlözers Wort „Weltliteratur“ ist als Parallele zu seinem Arbeitsgebiet der „Weltgeschichte“ gedacht; wer sich mit dieser beschäftige, müsse auch die russische und isländische Dichtung kennen. Dass Goethe diesen Text gekannt und bewusst auf Schlözers Verwendung des Wortes zurückgegriffen hätte, lässt sich leider nicht nachweisen.

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Schon wahrscheinlicher ist ein Austausch mit Christoph Martin Wieland (1733 – 1813), einem führenden Vertreter der Aufklärung, der seit 1772 in Weimar ansässig war. Wieland orientierte sich einerseits stark an der französischen Aufklärung, andererseits an der griechischen und römischen Antike. Sein erster und einziger Gebrauch des Wortes ‚Weltliteratur‘ erfolgte nach 1790, in einer Korrektur im Handexemplar seiner Ausgabe von Briefen des römischen Dichters Horaz (Quintus Horatius Flaccius). In korrigierter Form lautet die Passage:

[W]as man in den schönsten Zeiten von Rom unter dem Wort Urbanität begriff, diesen Geschmack der Hauptstadt und diese feine Tinktur von Weltkenntniß u. Weltliteratur so wie von reifer Charakterbildung u. Wohlbetragen, die man aus dem Lesen der besten Schriftsteller, und aus dem Umgang der cultiviertesten und vorzüglichsten Personen in einem sehr verfeinerten Zeitalter, unvermerkt annimmt.

Mit Weltliteratur sind in diesem Fall keine konkreten Texte, sondern die ‚Wohlbelesenheit‘ kultivierter (männlicher) Römer gemeint. Das trug laut Wieland zu einer Art Kosmopolitismus und Weltgewandtheit bei – typische Ideale der Aufklärung, die Wieland selbst in Romanen wie Die Geschichte der Abderiten (1774/80) oder Aristipp und einige seiner Zeitgenossen (1800/02) als überaus positiv beschrieb. Die handschriftliche Korrektur mit dem Wort ‚Weltliteratur‘ erschien nie im Druck. Erst nach Wielands Tod gab es eine Neuauflage der Briefausgabe, allerdings ohne die Vorrede. Das Exemplar mit Wielands handschriftlicher Nachbesserung befindet sich heute im Deutschen Literaturarchiv (DLA) in Marbach bei Stuttgart.

Veröffentlicht von digitaleliteraturfr

Extraordinary Professor of German Literature, University of Freiburg, Germany / Project Head, "Goethe digital", Klassik Stiftung Weimar and Marbach Weimar Wolfenbüttel Research Association, Germany

2 Kommentare zu „‚Weltliteratur‘ vor Goethe

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