George Steiner – A Footnote to Weltliteratur

Martin Waldseemüller, Weltkarte (1507), Quelle: Wikimedia Commons, Public Domain

Ein Beitrag von Vanessa van Stipriaan

Francis George Steiner (geboren am 23. April 1929 in Paris, gestorben am 03. Februar 2020 in Cambridge) war ein erfolgreicher Essayist, Professor, Autor und Literaturkritiker. Durch ihn und seine Rezensionen wurde die Disziplin der Komparistik in Europa bekannt. In seinem Text A Footnote to Weltliteratur befasst sich Steiner vor allem mit der Bedeutung von Übersetzungen und wie sie das Verständnis von Weltliteratur prägen.

Steiners Interesse an Sprachen, ihrer Funktion und Wirkung zeigt sich auch schon in seinen früheren Werken wie Language and Silence: Essays on Language, Literature and the Inhuman von 1967, Real Presences von 1989 und in seinem bekanntesten Werk After Babel: Aspects of Language and Translation aus dem Jahr 1975. Darin bezieht sich Steiner unter anderem auf Noam Chomskys sprachwissenschaftlichen Theorien und stellt sich explizit gegen die Gedanken der generativen Grammatik. Steiner betont stattdessen die metaphysischen Eigenschaften der Sprache.

Die Faszination für Sprachen liegt zum Teil in seiner Biografie begründet. Bereits 1924 flohen seine jüdischen Eltern aus Österreich vor dem zunehmenden Antisemitismus nach Frankreich. Steiner, in Paris geboren, lernte somit nicht nur die Muttersprache seiner Eltern, sondern auch Französisch fließend zu sprechen und zu verstehen. Als seine Familie schließlich auf Flucht vor dem Krieg nach New York auswanderte, gehörte bald auch die englische Sprache zu seinem Repertoire. Wurde Steiner Jahre später in Interviews nach seiner Muttersprache gefragt, so gab er an, dass er sowohl Deutsch als auch Französisch und Englisch als gleichrangig ansähe, er könne sich nicht nur auf eine Sprache festlegen. Diese Verflechtung der drei Sprachen in ihm beschäftigten ihn sein Leben lang und prägte sein Schaffen enorm. Steiner unterrichte zeitlebens an verschiedenen Universitäten in den Vereinigten Staaten und in Europa, darunter beispielsweise Princeton und Cambridge, und war auch in publizistischer Hinsicht sehr aktiv. Dabei beschränkte er sich nicht nur auf Fachliteratur, sondern veröffentlichte auch belletristische Werke. Allerdings entschied sich Steiner bewusst dafür, seine jüdische Herkunft nicht in seinen Büchern zu behandeln.

In seinem Text A Footnote to Weltliteratur, der 1979 in englischer Sprache verfasst und veröffentlicht wurde, setzt sich Steiner vor allem mit dem deutschen Schriftsteller und Dichter Johann Wolfgang von Goethe und dessen Tätigkeit als Übersetzer auseinander. Goethe, der den meisten vor allem als Schriftsteller und weniger als Übersetzer bekannt sein wird, übersetzte von 1757 bis 1830 viele Texte aus über 18 Sprachen. Wenn Goethe die Originalsprache der jeweiligen Werke selbst nicht beherrschte, suchte er sich eine Ausgabe in einer Sprache, die er verstand, wie Steiner eingangs herausstellt. In seiner Arbeit zeigt Steiner die Bedeutung der Übersetzungspraxis für Goethe deutlich auf und was für einen hohen Stellenwert sie für den Dichter besaß. Dabei stellt er den Balanceakt heraus, den das Übersetzen zwangsweise fordert: Zum einen der die möglichst authentische Repräsentation des Originals, zum anderen die Grenzen der Übersetzbarkeit von Ausdrücken, Klang und Stil von einer Sprache in die andere an sich. Steiner verknüpft Goethes Übersetzungspraxis mit dessen Definition der Weltliteratur, den er in den entsprechenden Schaffenskontext einordnet. Goethe, der häufig fälschlicherweise als Erfinder des Begriffes ‚Weltliteratur‘ genannt wird, beschäftigt sich erst in seiner letzten Schaffensphase mit diesem Konzept. Dabei stellte Goethe fest, dass alle Literaturen bedeutend sind, um ein Verständnis für die historischen Voraussetzungen zu bekommen, worin Steiner ihm zustimmt. Goethe behauptet des Weiteren auch, dass alle Literaturen potenziell miteinander verknüpft werden könnten, dadurch dass sie von anderen studiert und übersetzt werden. Diese Annahme stellt im Übrigen bis heute den Grundgedanken der vergleichenden Literaturwissenschaften dar.

Steiner geht außerdem auf die kulturellen Bedingungen ein, unter denen Goethe über Weltliteratur schreibt, denn in ihnen liegt die politische Dimension in Goethes Verwendung des Begriffes begründet. Es handelt sich dabei um eine Zeit, in der ein größeres Interesse und Verständnis für Sprachen und Literaturen außerhalb Europas herrschte, besonders für die fernöstlichen. Die Fortschritte in der philologischen und ethnologischen Forschung im frühen 19. Jahrhundert hätten Goethes Programmatik zur Weltliteratur erst möglich gemacht. Doch zeitgleich entwickelten sich zunehmend nationalistische Strömungen, die Goethes kosmopolitische Ansichten nicht teilten. Aus diesem Grund könne man die moralische Komponente in Goethes Begriffsverwendung als Gegenreaktion zu eben diesen Strömungen betrachten.

Steiner beendet seinen Beitrag zu Goethes Weltliteraturbegriff mit der Bedeutung, die Goethe für die Komparistik hatte und bis heute hat und behauptet abschließend: „Goethe would have acknowledged a kindred temper.”

Veröffentlicht von digitaleliteraturfr

Extraordinary Professor of German Literature, University of Freiburg, Germany / Project Head, "Goethe digital", Klassik Stiftung Weimar and Marbach Weimar Wolfenbüttel Research Association, Germany

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