Goethe und die Weltliteratur

Die politische Balance der Welt. Russische Karte von ca. 1829/30. Quelle: Wikimedia Commons, Public Domain.

Ein Beitrag von Stefan Höppner

Weltweit gilt Johann Wolfgang Goethe (1749 – 1832) als Erfinder des Wortes ‚Weltliteratur‘. Das trifft nicht zu, denn der Begriff lässt sich schon zuvor bei August Ludwig Schlözer und Christoph Martin Wieland nachweisen (siehe auch den Beitrag ‚Weltlieratur vor Goethe‚). Anders als diese beiden stieß Goethe aber auf internationale Resonanz, weil er zu Lebzeiten auch jenseits des deutschen Sprachgebietes eine breite Leserschaft hatte. Das lag zum einen an den populären Leiden des jungen Werther (1774), die bald nach ihrem Erscheinen in andere europäische Sprachen übersetzt wurden; Napoleon will das Buch nicht weniger als siebenmal gelesen haben.

Zweiter Grund war das populäre Buch De l’Allemagne (1810/14) der französischen Exilantin Germaine de Staël (1766 – 1817), in der sie ein positives und vielschichtiges Bild der deutschen Philosophie und Literatur zeichnete. Wie schon in der Germania des römischen Historikers Tacitus ging es nicht nur um das Porträt einer anderen Kultur, sondern auch darum, der eigenen, vermeintlich im Niedergang begriffenen Kultur ein positives Gegenbild zu liefern. De Staëls Buch traf auf große Resonanz, nicht nur in Frankreich, wo es zunächst verboten war, sondern auch in anderen europäischen Ländern, vor allem in Großbritannien und Italien. Damit lenkte es nicht nur neue Aufmerksamkeit auf Goethe (vor allem auf Faust, Götz von Berlichingen und wieder auf den Werther), sondern seine Werke wurden auch neu gelesen, in Zeitschriften rezensiert und übersetzt. Diese Rezensionen und Übersetzungen schickte man Goethe wiederum zu, so dass er sie zur Kenntnis nahm und in vielen Fällen auch seinerseits rezensierte. Dafür nutzte er in erster Linie seine eigene Zeitschrift Ueber Kunst und Alterthum, gelegentlich aber auch längere Texte wie sein Vorwort zur deutschen Übersetzung einer Schiller-Biographie des Schotten Thomas Carlyle.

Goethe hatte sich zeitlebens mit anderen Kulturen und Literaturen beschäftigt und auch aus anderen Sprachen übersetzt. Im Alter weiteten sich diese Interessen immer mehr aus. Zwischen 1814 und 1819 arbeitete er am Gedichtzyklus West-östlicher Divan. Dafür beschäftigte er sich intensiv mit persischer, arabischer und türkischer Literatur und dem Koran – allerdings in europäischen Übersetzungen, da er keine dieser Sprachen beherrschte. Wichtigste Inspiration waren die Gedichte des persischen Lyrikers Hafis (1315 – 1390) in einer geglätteten Übersetzung des österreichischen Diplomaten Joseph von Hammer-Purgstall. Für die deutsche Literatur der 1810er bis 1830er Jahre, die Spätromantik und den Vormärz, interessierte er sich dagegen kaum. Goethes Offenheit für andere Kulturen war für seine Zeit durchaus ungewöhnlich; unausgesprochen blieben aber die klassische Antike und die europäischen Literaturen seiner eigenen Zeit Goethes weitgehend der Maßstab für seine Beurteilungen.

Was sind denn nun zentrale Punkte von Goethes ‚Weltliteratur‘-Verständnis? Zum einen ist das die direkte Kommunikation zwischen lebenden Autoren (Autorinnen spielten für ihn nur eine geringe Rolle). In den Worten von Anne Bohnenkamp-Renken, der Leiterin des Frankfurter Goethehauses: „Goethes ‚Weltliteratur‘ entsteht nicht nur aus der internationalen und interkulturellen Kommunikation, sie ist diese Kommunikation selbst.“ Dieser direkte Austausch sollte wiederum zur Verständigung der europäischen Völker beitragen. Damit wollte Goethe auch dem gesteigerten Nationalismus nach dem Sieg der anderen europäischen Mächte über Napoleon entgegentreten. Aber nicht nur der direkte Austausch, auch die Kommunikation durch neue, internationale Literaturzeitschriften und die Übersetzungen fremdsprachiger Literatur waren Goethe wichtig.

Den Begriff ‚Weltliteratur‘ nutzte Goethe nur innerhalb eines relativ kurzen Zeitraums, von 1827 bis 1831, als auch sein direkter Austausch mit fremdsprachigen Autoren (und kaum Autorinnen) seinen Höhepunkt erreichte. Dabei formulierte er keine in sich schlüssige, einheitliche Theorie, was ihm in späteren Zeiten zwar vorgeworfen wurde. Die Vieldeutigkeit bot aber auch Anschlusspunkte für ganz unterschiedliche Auffassungen, was Weltliteratur eigentlich sei, so dass bis heute ein großer Teil von Studien zur Weltliteratur sich ausdrücklich auf Goethe zurückbezieht. 

Auch äußere Faktoren trugen dazu bei, dass Goethe sich gerade an seinem Lebensende diesem Thema widmete: der expandierende Kolonialismus Frankreichs und Großbritanniens, durch den die Kenntnis anderer Kulturen und Literaturen nach Europa gelangte, wodurch sich wiederum Philologen und Historiker mit deren Texten beschäftigten; neue Techniken des Buchdrucks wie die Schnellpresse und das holzhaltige Papier, die die Produktion von Büchern günstiger machten; und schließlich neue Technologien und Verkehrsverbindungen wie der Telegraf, das Dampfschiff, Eisenbahnen und Schnellkutschen, die eine schnellere und breitere Zirkulation von Gütern und damit auch Büchern und Zeitschriften ermöglichten.

Veröffentlicht von digitaleliteraturfr

Extraordinary Professor of German Literature, University of Freiburg, Germany / Project Head, "Goethe digital", Klassik Stiftung Weimar and Marbach Weimar Wolfenbüttel Research Association, Germany

4 Kommentare zu „Goethe und die Weltliteratur

  1. Sein Streben nach „Weltliteratur“ und Verbindung der Kulturen ist bei Goethe positiv zu werten. Überhaupt halte ich mich bei diesem deutschen Nationalautor an die positiven Seiten: Liebe zu Italien, romantische Gedichte, europischer Gedanke etc. Deutschtümelei und Fürstenintrigen interessien mich nicht. So bleibt er lesenswert.

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